Neuer Bericht: Certified occupation
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Der neue Bericht dokumentiert, wie internationale Zertifizierungsstandards Marokkos umstrittenem Handel mit Fischerei- und Agrarprodukten aus der besetzten Westsahara schönreden und verharmlosen.

16. Dezember 2025

Europäische Verbraucher:innen vertrauen auf Zertifizierungssiegel als Zeichen für verantwortungsvolle Produktion. Ein heute von Western Sahara Resource Watch (WSRW) veröffentlichter neuer Bericht dokumentiert, dass diese Siegel in Bezug auf die Produktion in der besetzten Westsahara in der Realität das Gegenteil bewirken.

In ganz Europa sind Supermarktregale mit Tomaten und Sardinenkonserven gefüllt, die mit angesehenen Zertifizierungslabels versehen sind. Hinter diesen Labels verbirgt sich ein System. Dieses erlaubt marokkanischen Unternehmen, die auf besetztem Gebiet tätig sind, sich als „verantwortungsbewusst“ darzustellen, während Verstöße gegen das Völkerrecht, EU-Gerichtsurteile und die tatsächliche Herkunft der Produkte verschleiert werden.

Die Recherche dokumentiert, wie Dutzende internationaler Normen und Zertifizierungsstellen marokkanischen Unternehmen in der besetzten Westsahara den Zugang zum EU-Markt unter falschen Angaben zum Herkunftsland ermöglichen. Produkte aus einem Gebiet, das rechtlich von Marokko gesondert und unterschiedlich ist, werden routinemäßig als „marokkanisch” zertifiziert, registriert und vermarktet. Was nach EU-Recht als falsche Kennzeichnung – und in einigen Fällen als Lebensmittelbetrug – gilt, ist integraler Bestandteil des Zertifizierungssystems.

 

Den kompletten Bericht „Certified Occupation” können Sie hier herunterladen.

 

Das Geschäftsmodell ist einfach: Marokkanische Exportunternehmen bezahlen für Zertifikate. Zertifizierungsstellen stellen sie aus. Die Eigentümer der Standards lizenzieren sie. Alle profitieren – und wenn Probleme auftreten, zeigen gegenseitig mit dem Finger auf die anderen. Die Prüfunternehmen geben den Standards die Schuld. Die Standards geben den Prüfern die Schuld. Beide sind finanziell von den Unternehmen abhängig, die sie eigentlich überwachen sollten.

Es gibt praktisch keine Rechenschaftspflicht. Fast niemand beantwortet Fragen. Keines der rund 60 in diesem Bericht genannten Unternehmen antwortete auf die Frage, ob es akzeptiert, dass die Westsahara nicht zu Marokko gehört.

Zertifizierungssysteme, die vorgeben, Lebensmittelbetrug zu verhindern, reproduzieren aktiv falsche geografische Informationen in ihren Datenbanken und Zertifikaten. Selbst Systeme, die mit dem Schutz vor falscher Kennzeichnung werben, führen europäische Einzelhandelsunternehmen direkt in die Illegalität, indem sie die Westsahara als Teil Marokkos darstellen. Einzelhandels-, Importunternehmen und Verbraucher:innen werden systematisch in die Irre geführt.

Nur zwei Akteure brachen mit diesem Muster. Der Aquaculture Stewardship Council (ASC) beschloss, sich vollständig aus der Westsahara zurückzuziehen, da er erkannte, dass das Gebiet eine erhöhte Sorgfaltspflicht im Bereich der Menschenrechte erfordert, welche er nicht garantieren kann. Auch die Zertifizierungsstelle LSQA zog sich zurück. Alle anderen verteidigten entweder ihre Praktiken oder schwiegen.

Der rechtliche Rahmen ist klar. Nach internationalem Recht hat das Volk der Westsahara – und nicht Marokko – die Hoheitsrechte über das Gebiet und seine natürlichen Ressourcen. Zehn Urteile des Europäischen Gerichtshofs bestätigen, dass die Westsahara nicht zu Marokko gehört, dass für wirtschaftliche Aktivitäten die Zustimmung der Sahrauis erforderlich ist und dass Produkte aus diesem Gebiet entsprechend gekennzeichnet werden müssen. Zertifizierungssysteme ignorieren diese Urteile jedoch genau dort, wo es am wichtigsten ist: auf dem Zertifikat selbst.

Solange Zertifizierungssysteme Unternehmen und Produkte aus dem besetzten Gebiete weiterhin so zertifizieren, als gehörte dies zu Marokko, sollten Verbraucher:innen deren Labels mit äußerster Vorsicht betrachten. Wenn eine Zertifizierungsstelle nicht einmal angeben kann, wo sich eine Anlage geografisch befindet, bricht jede andere Nachhaltigkeitsbehauptung mit ihr zusammen.

Produkte mit Labels wie GMP+, MarinTrust, Friend of the Sea, FSSC 22000, BRCGS, AWS, oder IFS Food oder GlobalG.A.P. aus Deutschland können nicht als verantwortungsbewusst hergestellt angesehen werden.

Kurz gesagt: Was heute als „Nachhaltigkeit”, „Sicherheit” oder „Verantwortung” vermarktet wird, stellt sich in der Westsahara als ein Compliance-Theater dar, welches die Besatzung verschleiert, Illegalität normalisiert und umstrittene Ressourcen in europäische Lieferketten einschleust.

 

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